Renate Schwertel: Glücksmoment mit meinem Kind

Renate Schwertel, 24.01.2024

Renate Schwertel
Renate Schwertel

Mein Sohn war ungefähr 2 Jahre alt, lag in seinem Schlafanzug im Bett und ich legte mich zu ihm. Wir redeten ein bisschen und vielleicht habe ich ihm etwas vorgelesen, das weiß ich nicht mehr so genau. Ich weiß aber noch sehr gut, wie ich mir sehnlichst gewünscht habe, ich könnte diesen vollkommenen Augenblick festhalten, für immer und ewig festhalten. Ich wollte mich vollsaugen mit dem Glück dieses einen Herzschlags, wollte ihn konservieren und wusste genau, dass das nicht geht, dass ich ihn jetzt erleben kann und nur jetzt, dass das einzige, das mir von diesem Moment bleibt, die Erinnerung sein wird.

Schöne Erinnerungen sind wunderbar. Doch ich weiß, dass die Erinnerung trügerisch ist, ich weiß, dass ich jedes Mal, wenn ich mich an etwas erinnere, das Bild verändere, dass etwas verloren geht und ich etwas dazu dichte. Die einzelnen Teile des Gesamtbildes ordnen sich wie in einem Kaleidoskop immer wieder neu. Ich weiß nicht mehr, wie alt mein Sohn genau war. Die Farbe des Schlafanzugs ist mir in Erinnerung geblieben, hellblau, aber ich kann mich nicht mehr an die aufgedruckten Motive erinnern. Ich weiß nicht mehr, worüber wir gesprochen haben. Die Erinnerung ist nur ein unzulängliches Bild dieses einen wirklichen Moments, dieses einen Augenblicks, in dem ich lebe, spüre und ganz da bin.

Manchmal möchte ich besondere Momente in meinem Leben noch einmal erleben. Genauso wie es war, nicht wie eine Erinnerung verschoben und verschwommen, sondern richtig in echt mit genau demselben Potpourri an Gefühlen wie in der Originalversion, wie diesen Glücksmoment mit meinem Kind. Ich würde dann so gerne die Zeit anhalten, festhalten, nicht loslassen und ich denke, damit bin ich nicht alleine. Wir machen Unmengen an Fotos und Videos in der Hoffnung, etwas aus der Gegenwart in die Zukunft retten zu können.

Doch was ich mir noch mehr wünsche ist, intensiver in der Gegenwart zu leben, das kurze Weilchen zwischen Vergangenheit und Zukunft zu erwischen, diesen Wimpernschlag des Da-Seins voll auszukosten, das Leben in jeder Zelle meines Körpers zu spüren, frei sein in diesem Moment ohne Bedauern über die Vergangenheit oder Angst vor der Zukunft.

Ich wünsche mir, ich könnte gelassener und mit mehr Vertrauen in die Zukunft sehen, könnte mit leichten Schritten meinen Weg weitergehen, das Schwere aus der Vergangenheit abschütteln, nicht so viel grübeln und planen. Ich weiß gar nichts über die Zukunft, in meinem Kopf nur Phantasie und Vorstellungen. Trotzdem schenkt mir die Zukunft auch heute schon etwas. Die Vorfreude auf erwartete schöne Ereignisse wie Reisen, Konzertbesuche, Kinobesuche möchte ich nicht verlieren, sondern voll auskosten, auch wenn ich weiß, dass die Gegenwart in der Zukunft dann ganz anders sein wird als die Vorstellungen, die mit der Vorfreude verbunden waren.

Eingezwängt, manchmal eingeklemmt und oft wundersam eingebettet zwischen der retuschierten Vergangenheit und der ungewissen und nebelhaften Zukunft will ich den winzigen Raum dazwischen für das Jetzt unbedingt erweitern. Ich bin da, jetzt und hier. Das ist mein Glück, mein Leben, das Einzige, das ich klar und rein erleben kann, nicht klammernd, nicht festhaltend, nur Da-Sein.

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