Simone Buser: Leergutstelle

Simone Buser, 22.11.2023

Simone Buser
Simone Buser

Blinde Passagiere

Vor ihr liegt der Schreibblock mit der Einkaufsliste. „Geräucherte Forelle“. Draussen hängen die Wolken tief über dem Asphalt, Regennässe spiegelt das Morgenlicht. Die Lider liegen schwer über ihren Augäpfeln. Sie lauscht in die Wohnung hinein. Nur der Küchenhahn tropft im Gleichklang mit den Tropfen, die an den Leergutflaschen auf dem Balkon abperlen. Sie könnten auch einfach Wasser aus dem Hahn trinken. Sie würde Geld sparen und müsste das Auto für die Fahrt zur Leergutstelle nicht mehr von ihrem Bruder leihen. Aber Philipp liebt den Sprudel.

Das Glas neben ihr ist halb gefüllt. Sie erinnert sich an den Poesiealbumeintrag ihres Primarlehrers: «Weniger ist mehr.» Ist halbleer auch halbvoll? Sie sitzt einfach da, die Spitze des Kugelschreibers auf den zuletzt geschriebenen Buchstaben gedrückt, die Haut über dem Knöchel gespannt. Gleicht ihr Leben einer Leergutstelle, an der man sich flüchtig begegnet und viel Leeres gegen wenig Bares tauscht?

Er kommt nicht auf leisen Sohlen daher, obwohl er barfuss ist. Sie hat ihn nicht gehört. Schon ist er in der Küche. Die lose Boxershorts-Kombination verströmt Bettgeruch. Die Kaffeetassen türmen sich auf der Küchenabdeckung. Der Küchenaufräumplan hängt am Kühlschrank. Er setzt Wasser auf, nimmt die oberste Tasse vom Turm, kippt Kaffeepulver hinein, beobachtet, wie das heisse Wasser braun eingetrocknete Ränder aufweicht. Wie ein reissender Fluss hat er sie vor zwanzig Jahren ins Muttersein gerissen und ganz und gar verschluckt. Schon sitzt er auf dem Sofa. Ein Bein stellt er aufs Polster, das andere legt er rechtwinklig darüber. Mit ein wenig Verrenkung gelingt es ihm, seinen Verdampfer vom Salontischchen zu angeln. Er befüllt ihn mit Erdbeergeschmack. Noch bis vor Kurzem hat er schlotternd auf dem Balkon gestanden, einen Fuss im Türspalt, damit sie reden konnten. «Auch einen Kaffee?» Er tippt an seine Tasse. Fast unmerklich bewegt sie den Kopf. Der Kugelschreiber beginnt die «Geräucherte Forelle» zu umkreisen. «Mum, alles klar bei dir?» Philipp stösst eine Dampfwolke aus. Der neue Passivrauch verbreitet Zuckerwattegefühl. «Ja, ja, sicher.» «Mum, bist du wieder im Tiefflug? Bleib locker. Relaxen Mum!„ Die „Geräucherte Forelle“ sieht jetzt aus, als wäre sie in eine ovale Konservendose eingequetscht. «Das ist wohl ein Fremdwort für mich.»

Sie zieht den Kugelschreiber zurück, beginnt neu mit einem Kreis, schreibt «Relaxen» in die Mitte. Zögerlich zieht sie Striche rund ums Wort, die wie Strahlen aussehen. Auf jeden Strahl schreibt sie Wörter, die nach immer neuen Wörtern und ganzen Sätzen rufen. Sie beleben ihre Leergutstelle, erzählen von Augen, die in Seelen blicken, von Leergut, das sich mit Leichtigkeit und Zweisamkeit füllt.

Philipp ist längst in seine digitale Welt abgetaucht. Eingeloggt und angedockt an seine Kollegen, tanzt er auf den Galaxien von Star War.

Wenn Lerchen wegdämmern, laufen Eulen zu Hochform auf. Philipps Vater war Langschläfer, sie Frühaufsteherin, und so sind sie sich nur immer kurz mit beidseitig aufgeladenem Akku begegnet. Irgendwann haben sie sich wohl an den Schnittstellen von Morgen- und Abenddämmerung verloren.

Sie zeichnet ein Herz, schreibt „Lerchenmännchen“ hinein, zieht Strahlen, hört lange nicht mehr auf zu schreiben. An den folgenden Tagen, auf neue Blöcke platziert sie wieder Kreise, setzt Wörter in ihre Mitte und Wörter auf die Strahlen. Als sie schliesslich Briefe an sich selbst schreibt, packt sie ein paar Flaschen vom Balkon auf den Gepäckträger ihres Fahrrades und radelt los.

Es sind viele Kilometer, die Kraft abverlangen. Die Tage werden kürzer und es scheint, als hingen die Wolken mit jedem Tag tiefer, als würden sie ganze Landstriche umarmen. Die Winde zerren an ihrer Jacke und doch flackert ein Flämmchen in ihr auf. Wie das Licht an ihrem Fahrrad zuckt es, verschwindet, um erneut zu zucken. Zuhause erlischt es, unterwegs wird es wieder entfacht. Sie nimmt immer nur wenige Flaschen mit, damit das Sammelgut auf dem Balkon für drei wöchentliche Fahrten und das Pfandgeld für einen Kaffee an der gegenüberliegenden Kaffeebar reicht.

Das Flämmchen flackert auch in ihren Augen auf. Sie liest es in den Augen direkt ihr gegenüber, die noch gestern durchs Fenster auf die Leergutstelle gestarrt haben, während sich ihre im Grau der Wände verloren haben. Jetzt kommt es ihr vor, als wären all die Wörter als blinde Passagiere mitgereist, als hätten sie durch die vielen Kilometer sprechen gelernt.

Datenschutzhinweis
Diese Webseite nutzt externe Komponenten, welche dazu genutzt werden können, Daten über Ihr Verhalten zu sammeln. Lesen Sie dazu mehr in unseren Datenschutzinformationen.
Notwendige Cookies werden immer geladen