Gespräch mit Maé Wuillemin

Patricia Andrighetto, 15.03.2024

Maé Wuillemin
Maé Wuillemin

Maé Wuillemin, Du bist seit September 2023 psychologische Beraterin in eigener Praxis. Dein Werdegang hat jedoch an einem völlig anderen Ausgangspunkt begonnen: Ursprünglich hast Du eine Lehre als Gärtnerin absolviert und später noch den Beruf der Floristin erlernt, ehe Du dann vor knapp zwei Jahren das Diplom als psychologische Beraterin FSB erlangt hast. Wie bist Du von den Pflanzen zu den Menschen gekommen, was hat Dich zu diesem Weg inspiriert und: Gibt es eine Verbindung zwischen Deinem erlernten Beruf und Deiner heutigen Tätigkeit?

Tatsächlich gibt es sie: diese Verbindung zwischen meinen Berufen! Und zwar in verschiedener Hinsicht: Ich bin in einer grossen Familie – also zusammen mit vielen Menschen – aufgewachsen; umgeben von der Natur. Geprägt hat mich schon als Kind der Gedanke, dass mit beiden sorgsam umzugehen sei: mit der Natur und mit dem Menschen. Beide brauchen optimale Lebensbedingungen und viel Pflege, damit sie gedeihen und sich entfalten können. Wachstum, das Reifen und die Ernte setzen Einsatz, Fürsorge und Achtsamkeit voraus.

Als junges Mädchen habe ich dann beschlossen, mich der Natur zu widmen. Ich habe eine Lehre als Topfpflanzen- und Schnittblumengärtnerin absolviert. Ein Beruf, den ich sehr geliebt habe. Mit der Heirat und der Gründung einer eigenen Familie rückte die Menschen in den Mittelpunkt meines Lebens. Ich habe meinen Beruf aufgegeben und mein Augenmerk darauf gerichtet, für unsere drei Kinder optimale Lebens- und Wachstumsbedingungen zu schaffen.

Deine Kinder sind heute erwachsen. Damit ist die Geschichte des Lebensabschnitts zwischen Gärtnerin und psychologischer Beraterin aber noch nicht zu Ende erzählt.

Nein, tatsächlich nicht. Ich war lange Jahre und sehr gerne Familienfrau. Während dieser Zeit bin ich mir meiner sozialen Kompetenz bewusst geworden; aber auch meines grossen Interessens am Menschen. Ich habe festgestellt, welchen Zugang ich generell zu Menschen habe und welche Wertschätzung ich für sie aufbringen kann. Das wiederum hat meinem Umfeld signalisiert, dass ich da bin, wenn Rat und Hilfe gefragt sind.

Als die Kinder grösser wurden, beschäftigte ich mich zunehmend mit der Frage, wie ich mein weiteres Leben gestalten wollte. Ich verspürte den Wunsch und die Bereitschaft, noch einmal etwas Neues anzupacken. Mit 40 Jahren beschloss ich, eine weitere Ausbildung zu absolvieren: Trotz meiner Liebe zum Menschen und meiner sozialen Neigung entschied ich mich nun aber vorerst, Floristin zu werden.

Ein unkonventioneller Schritt, aber wohl das Verbindungsstück zwischen Deinem ersten und Deinem heutigen Beruf?

In jener Phase meines Lebens faszinierte mich die künstlerisch-kreative Komponente. Ich konnte als Floristin meiner Leidenschaft nachgehen, die Natur in Form von Blumen so attraktiv wie möglich zu präsentieren. Jede Blume hat eine eigene Ausstrahlung. Ich richtete meine Aufmerksamkeit darauf, die einzelnen Blumen so zu platzieren, damit ihr Wesen optimal zur Geltung kommen konnte. Eine Haltung, die ich auch auf den Menschen übertrage – womit sich die Verbindung zwischen meinem ersten und meinem dritten Beruf herauskristallisiert: Als psychologische Beraterin betrachte ich es als eine meiner Aufgaben, den Menschen dabei zu unterstützen, seinen eigentlichen Platz im Leben zu finden, damit er richtig aufblühen kann. Stets unter Berücksichtigung seines Wesens. Denn: Eine Rose kann keine Margerite werden!

Bis zum Beginn der Ausbildung als psychologische Beraterin sind dann nochmals rund 20 weitere Jahre vergangen. Dein Diplom als psychologische Beraterin FSB hast Du schliesslich am 22. Oktober 2022 in Empfang nehmen dürfen. Wie bist Du – in der Innerschweiz wohnhaft – auf das Frauenseminar Bodensee gestossen?

Ganz einfach: durch Bücher von Julia Onken! Ich habe schon immer viel gelesen, auch Fachliteratur, um meinen Wissensdurst zu stillen. Früh beschäftigte ich mich auch mit Frauenthemen. Dabei stiess ich auf Literatur von Julia und damit auf das FSB.

Was hat Dich davon überzeugt, am FSB die Ausbildung zu absolvieren?

Mein ganzes Leben lang war ich stark eingebunden in verschiedene Tätigkeiten. Ich war mit Leib und Seele Familienfrau, arbeitete aber in Teilzeit auch ausser Haus, pflegte später meine betagten Eltern und engagierte mich in der Freiwilligenarbeit. Mir war immer klar: Meine Lebenserfahrung hat einen Wert – auch wenn es dafür weder ein Diplom noch ein Arbeitszeugnis gibt. Dass das FSB gerade auch informelle Leistungen wie Familienarbeit, soziale Engagements oder auch das Meistern besonders herausfordernder Lebensumstände durch die Gleichwertigkeitsanerkennung berücksichtigt und anrechnet, hat mich überzeugt! Ausserdem liess sich der modulare Aufbau der Ausbildung gut in meinen bereits sehr aktiven Alltag integrieren.

Wie hast Du die Ausbildung zur psychologischen Beraterin am FSB rückblickend erlebt?

In diesen drei Jahren bin ich mutiger und selbstsicherer geworden. Und ich habe auf eine eindrückliche Weise erleben dürfen, dass ich auch in meiner zweiten Lebenshälfte mein bisheriges Setting verlassen und Neues lernen kann. Durch das Erkennen psychologischer Zusammenhänge und die Auseinandersetzung mit mir selbst lernte ich ausserdem, mein eigenes Leben besser zu verstehen. Vieles hat sich mir zu erschliessen begonnen, zum Beispiel, wer ich bin, woher ich komme und dass ich mitbestimmen kann, wohin ich gehen möchte.

Gab es Schlüsselmomente während der Ausbildung?

Oft, wenn ich nach Romanshorn gefahren und aus dem Zug ausgestiegen bin und das Klassenzimmer betreten habe, war es für mich wie ein «nach Hause kommen». Ich fühlte mich stets willkommen und aufgehoben.

Aber auch das Erfahren von eigenen Tiefen war für mich eindrücklich. Es ging oft «ans Eingemachte», wie Julia zu sagen pflegt.

Ein Erlebnis, das mir immer in Erinnerung bleiben wird, ereignete sich im August des zweiten Ausbildungsjahres. Ich war eben im Schulzimmer angekommen, um mich herum fröhliche Lebendigkeit. Da klingelte mein Telefon und mir wurde mitgeteilt, dass mein Vater verstorben sei. Da sass ich in diesem Klassenzimmer, weit weg all die Stimmen und die Geschäftigkeit, in mir wurde es ganz still. Dann teilte ich der Klasse mit, was ich soeben erfahren hatte. Was dann geschah, werde ich nie mehr vergessen: Mir kam eine Welle grosser Liebe und grossen Verständnisses entgegen, die mich aufhob und trug. Mitten in der Trauer wurde ich von der Gewissheit erfasst: «Mir kann nichts passieren. Ich darf meinen Schmerz zeigen und bin von Liebe umgeben.» Diese Tatsache, aber auch die Fähigkeit, dieses Gefühl überhaupt zulassen zu können, war für mich eine überwältigende Erfahrung.

Die Ausbildung hast Du im Herbst 2022 abgeschlossen. Rund ein Jahr später hast Du eine eigene Praxis in Emmenbrücke eröffnet. Wie ist es dazu gekommen?

Bereits während des Prüfungssemesters und der intensiven Beschäftigung mit Fallbeispielen wurde mir klar, wie viel Freude mir dieser Beruf machen würde. Ich hatte viel erreicht und war weit gekommen. Nun wollte ich dieses Wissen und meine Erfahrung auch anwenden. Ich habe mir dann ein Jahr Zeit gegeben, um meine Ideen reifen zu lassen und die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Im September 2023 war es so weit: Ich habe meine eigene Beratungspraxis eröffnet. Zusammen mit meinem Mann.

Ihr führt also eine Gemeinschaftspraxis? Eine besondere Situation! Wie hat sich das ergeben?

Walter, mein Mann, ist Arzt und Wissenschaftler. In den letzten Jahren hat er sich zunehmend auf die Bereiche Beratung und Patientenkompetenz konzentriert. Durch meine Ausbildung am FSB ist bei uns beiden der Wunsch wach geworden, als Ehepaar das «Projekt Beratungspraxis» zusammen zu entwickeln. Zwischenzeitlich hat er sein Pensum auf 60 Prozent reduziert und setzt einen Teil dieser freigewordenen Kapazität für unsere gemeinsame Praxis ein.

Ihr führt die Praxis zwar gemeinsam, beratet aber sowohl individuell als auch zu Zweit. Welche Erfahrungen habt ihr damit bisher gemacht?

Es hat sich bereits mehrmals ergeben, dass wir als Paar gemeinsam andere Paare beraten haben. Wir sind seit 40 Jahren gemeinsam unterwegs, haben viele Erfahrungen gesammelt und manche Krisen bewältigt. Für Klienten kann dies ein interessantes Setting sein, weil wir auch als Paar etwas zu bieten haben.

Aber auch in unserer individuellen Beratungstätigkeit profitieren wir von unserer Gemeinschaftspraxis. Zum Beispiel, indem wir uns gegenseitig unterstützen, Aussensichten einnehmen oder uns, wenn einmal angezeigt, Klienten gegenseitig überweisen.

Wir sind unterschiedliche Charaktere und decken gemeinsam ein breites Spektrum ab. Walter ist ein analytisch denkender, pragmatischer und lösungsorientierter Mensch. Ich selbst denke und handle eher intuitiv, schaffe Raum, helfe zu tragen und weiss um die Bedeutung des Prozesses von Reifen und Wachsen. Walter und ich respektieren uns gegenseitig in unserer Individualität, lassen die jeweilige Wahrnehmung gelten und reden uns nicht drein.

Welche Chancen siehst Du für Dich ganz persönlich in dieser beruflichen Konstellation?

Mein Mann ist in seinem angestammten Beruf sehr erfolgreich und sein Wirken von öffentlichem Interesse. Durch meine Tätigkeit als Beraterin und in der gemeinsamen Praxis mit ihm mache ich die freudvolle Erfahrung, meinen eigenen Wert ganz neu erkennen zu können. Das ist enorm ermutigend und motivierend!

Gleichzeitig ist für uns beide die gemeinsame Beratungstätigkeit die Krönung unserer eigenen Beziehung. Wir entdecken ganz neu, wie wir auch nach 40 Jahren unsere eigene Beziehung lebendig halten und neue Gemeinsamkeiten finden können. Das stärkt uns als Menschen und als Paar.

Du stehst noch am Anfang Deiner Beratungstätigkeit. Gibt es Situationen, die Dich in besonderer Weise herausfordern?

Die gibt es tatsächlich. Es kommt gelegentlich vor, dass mich unterschwellig eine Angst erfasst, ob ich meiner Arbeit und den Klientinnen und Klienten gewachsen und in der Lage bin, ihr Problem zu erfassen. Spüre ich, worum es ihnen wirklich geht? Das erzeugt Unsicherheit.

Dabei habe ich gelernt, dass meine Angst nicht ich selbst bin; diese kommt aus dem aussen. Ich aber richte in solchen Situationen meinen Blick nach innen, nehme mich selbst wahr und in Gedanken in den Arm und rede mir liebevoll zu. Im Wissen darum, dass ich nicht perfekt sein muss. Gleichzeitig ist es mir enorm wichtig, in welcher Stimmung ein Mensch meine Praxis wieder verlässt. Ich habe es mir daher zur Gewohnheit gemacht, stets nachzufragen, ob sich ein Klient, eine Klientin verstanden und aufgehoben gefühlt hat während des Gesprächs und wie es ihm bzw. ihr geht.

Von welchen Werten und Grundsätzen lässt Du Dich in Deiner Arbeit leiten?

Jeder Mensch will gesehen, gehört und geliebt werden. Diese Tatsache begleitet mich in meiner Arbeit und trägt dazu bei, dass ich einen Menschen so akzeptieren kann, wie er ist – und nicht, wie ich ihn haben will. Wie bereits am Anfang erwähnt: Aus einer Rose soll keine Margerite gemacht werden. Ich sehe meine Aufgabe darin, einen Beitrag dazu zu leisten, dass das Menschsein meines Gegenübers so gut und angenehm wie möglich werden kann. Johann Wolfgang von Goethe sagte einmal den wunderbaren Satz: «Es muss von Herzen kommen, was auf Herzen wirken soll.»

Ein Blick auf die Website «Wuillemin Beratung» lässt erahnen, dass in eurem Alltag auch Spiritualität eine Rolle spielt.

Der christliche Glaube ist aus meiner Sicht eine wertvolle Ressource und eine umfassende Quelle an Kraft, Inspiration und Zuversicht. Ich bin davon überzeugt, dass wir einer höheren Macht vertrauen dürfen, von der wir gewollt und geliebt sind. Mein ganz persönliches Gottesbild lässt mir allerdings Luft zum Atmen und bewegt sich weit weg von Schuldzuweisungen oder der Sündenfrage. Um es mit modernen Worten zu formulieren: Christus ist aus meiner Sicht ein weltberühmter Influencer mit einer klaren Botschaft. Ich sehe mich als Followerin und übernehme für mich und meine Arbeit, was stärkt.

In meiner Beratungstätigkeit spielt die Zugehörigkeit der Klientinnen und Klienten zu einer Kirche oder Religion selbstredend keine Rolle. Hingegen erkundige ich mich oft, ob und in welcher Weise ein Mensch Zugang zu seiner Spiritualität hat. Und erarbeite dann mit ihm, wie er die darin enthaltenen Möglichkeiten für sein Leben nutzen kann.

Julia Onken lehrt, dass die Seele in Bildern spricht. Lesen wir in der Bibel, stellen wir fest, dass Jesus zahlreiche Bilder gebraucht, um Menschen etwas zu erklären. Ein fantastischer Ansatz, den ich auch als Beraterin gerne übernehme. Dazu gehört auch die Frage, ob ich überhaupt gesunden möchte. Jesus hat niemals jemandem etwas aufgedrängt. Auch das übernehme ich als Grundsatz!

Werfen wir abschliessend noch einen Blick in die Zukunft: Was wünschst Du Dir im Hinblick auf die Entwicklung Deiner selbstständigen Tätigkeit?

Es ist mir ein Anliegen, eine gute, einfühlsame Beraterin und Begleiterin von Menschen zu werden. Wer zu mir in die Praxis kommt, soll Wertschätzung und Ermutigung erfahren und für ihn nutzbare Werkzeuge zurück in sein Leben nehmen können.

Übergeordnet arbeite ich natürlich auch an einer noch besseren Vernetzung und einem grösseren Bekanntheitsgrad unserer Praxis.

Und schliesslich ist die Gründung eines Gesprächskreises geplant, im Rahmen dessen regelmässig verschiedene Themen aufgegriffen werden. Für mich persönlich ist es wichtig, ein offenes Haus zu haben, in dem Menschen sich wohl, aufgehoben und respektiert fühlen und Vertrauen fassen können.

Weitere Informationen: https://wuillemin-beratung.ch/

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