Durch die Jahrzehnte getorkelt

Dora Kostyàl, 07.10.2021

Dora Kostyàl
Dora Kostyàl

„Nein, auf keinen Fall gehst du in eine fremde Stadt studieren, weit weg von uns! So einem jungen Mädchen kann dort alles passieren. Ausserdem zahlen wir nicht noch ein Zimmer, wenn du bequem und kostenlos zu Hause wohnen kannst.“

In der Heimatstadt existiert keine adäquate Studienmöglichkeit. Dolores, 19, beugt sich dem elterlichen Willen. In der damaligen Zeit bleibt ihr ja auch nicht viel anderes übrig. Entmutigt, tief traurig und schmollend zieht sie sich zurück und verliert den eigenen Pfad unter den Füssen. Dann stolpert sie aus Mangel an Orientierung und Unterstützung über den farblosen mütterlichen Weg: Sie wird zur Bankangestellten. Und vielleicht hofft sie, durch den kläglichen Lohn etwas mehr Unabhängigkeit zu erlangen. Sie absolviert jahrelang ihre täglichen 8 Stunden und nimmt klanglos die zwei Wochen Ferien hin. Lebt fortan in einer Fantasiewelt (Partyverbot, da unanständig und voller Gefahren: sie wohnt selbstverständlich immer noch daheim). Bücher und Kinofilme leisten ihr in ihren Träumereien Gesellschaft.

Ein anonymer Brief an die Eltern verändert alles. Wie so oft, erfahren sie als Letzte, was inzwischen „alle in der Stadt wissen“: die heimliche Liebesbeziehung zwischen ihr und dem 24 Jahren älteren, noch-verheirateten Chef. Ein Skandal. Und für den Familienclan eine Schande.

Kurz: Sie wird zur Heirat gedrängt und nach ein paar Jahren selber Mutter.

Wieder ein Ersatzleben, diesmal aber geteilt –wie es sich in der Zwischenzeit herausstellt- mit einem sadistisch veranlagten Alkoholiker. Diesmal in der Rolle der sich aufopfernden Mutter und treu ergebenen Ehefrau (nach dem Motto: „Der Schurz einer Ehefrau muss gross genug sein.“). Der vermeintliche Sinn der vorangegangenen Krise erweist sich also als Falle, als neue Krise. Sie harrt aus. Ohne Werkzeuge, hilflos, nie wirklich vom Elternhaus losgelöst.

Einsam und verarmt stirbt sie mit 61 einen leidvollen Krebstod.

Armine hat mehr Freiheit: sie darf studieren. In einer fremden Stadt!

Als ehemaliges Schlüsselkind schon immer auf sich gestellt, hat sie entsprechend früh (viel zu früh!) Überlebensstrategien entwickeln müssen. Ihr Leitsatz: „Ich schaffe das alles allein!“ So meistert sie tatsächlich einiges, zurückblickend besteht ihr ganzes Leben aus lauter Krisen – zum grossen Teil selber verursacht. Eigensinnig bis starrsinnig, macht sie sich auch nicht gerade beliebt. Aber lehrreich ist ihr Irrweg schon.

Gegen 60 realisiert sie, dass sie eigentlich nie richtig gelebt hat, nur funktioniert oder sich an Widerständen orientiert und dadurch sehr viel Energie verpufft. Fehlinvestitionen nennt sie das. So tut sich im Alter eine viel grössere Krise auf – wie in den Träumen das sich plötzlich öffnende Trottoir mit der bodenlosen Grube – sie fällt rein. Und kommt zur Erkenntnis, dass sie schlief, oder im besten Fall sediert und traumwandlerisch durch all die Jahrzehnte getorkelt war. Dass das Verpasste nie mehr nachgeholt werden kann, dass sie sich mit dem ungelebten Leben abfinden und mit der Todesangst fertig werden muss.

Hans, Elektrotechniker, bekommt mit 52 Jahren einen Herzinfarkt und muss anschliessend auch noch am Herz operiert werden. Er ist lange krank geschrieben und wird am Schluss arbeitslos. Er hat kein Geld, gerät in die Isolation und wird von Depressionen heimgesucht.

Da geht er an einem Tag mit Pinsel und Farbe in den Wald und malt. Dann immer wieder, stunden- und tagelang. Empfunden als Trost, als Gnade. Das Malen wird zu seiner Leidenschaft und zur erkannten Berufung.

Viele Bilder entstehen. Eine Ausstellung bringt dann den Erfolg und die Werke finden auch Käufer. Das ist 25 Jahre her, heute malt er immer noch. Er ist mit seinem Leben zufrieden und würde nie mehr im angestammten Beruf arbeiten wollen.

Übrigens: sein Herz hat ihm seither keine Probleme mehr verursacht.

Gute ärztliche Leistung oder einfach erhört? Wahrscheinlich beides.

Stellas Leben ist reich an Krisen. Nach mehreren Zusammenbrüchen fängt sie an – aus lauter Verzweiflung – ihre Gedanken und Träume aufzuschreiben. Jeden Tag. Alle Gefühlsregungen, bevor sie sich noch überhaupt manifestieren könnten: Unbehagen, Unsicherheiten, Fragen und verzweifelte Versuche, hinter all dem Gründe zu erkennen. Unzensuriert und ungefiltert füllen die Worte die Notizbücher, mehrere Dutzend in ein paar Jahren. Ohne Zweck und ohne Ziel fliesst alles aus der Seele, ein Dammbruch nach langer Stauzeit, der neben dreckigem Geröll auch viel Wertvolles birgt.

Unmerklich gewinnt das Unnennbare eine sicht- und fassbare Form; sie kann jetzt das Namenlose benennen und sogar es anderen zugänglich machen, sie berühren.

Der früh abgebrochene Kontakt zu sich selbst ist wieder hergestellt, der Dialog findet statt. Das wiederum verändert die Umstände, die Situationen, in die sie gerät, werden anders, wie auch die Menschen, die in ihr Leben treten.

Scheinbar zufällig findet sie auf diese Weise ihren vergrabenen Schatz, von dem sie geglaubt hatte, dass er verloren gegangen oder nie vorhanden gewesen war.

Liegt also der Schlüssel zur Krisenbewältigung doch noch im Lauschen auf die Stimme im Inneren, die zu wissen scheint was für ein Sinn der Krise gegeben werden könnte?

Fast immer gibt es eine Wahl: Sklave oder Stehaufmännchen? Niedergang oder Neuanfang, Keulenschlag oder Chance? Opfer sein oder die Herausforderung annehmen? Präsent bleiben oder die Zeit im Halbschlaf vertrödeln?

Das Problem ist: Viele verlegen den Schüssel.

Andere haben ihn nie bekommen.

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