Die wahre Geliebte

Brigitte Hieronimus, 27.05.2021

Brigitte Hieronimus
Brigitte Hieronimus

Seitenspringen ist passé.
Zumindest für mich.
Geradeaus geht’s.
Auf direktem Weg.

Es war kein Zufall, dass ich mich an eine Freundin erinnerte, mit der ich einst lyrische Texte schrieb. Als ich die Verbindung zu ihr wieder aufnahm, war es, als ob wir nie auseinander gegangen wären. Sie war wie ich geschieden. Doch seit einigen Jahren gab es einen Geliebten in ihrem Leben, der ihr Seelengefährte und Wegbegleiter wurde. Ich staunte. In diesem Alter? Sie war doch schon über 70 …

Nach einigen Wochen regelmäßigen Austausches vertraute ich ihr an, dass ich mich nach Jahren des Alleinseins hin und wieder nach einem Mann an meiner Seite sehnen würde, jedoch in meinem Alter keine große Chance sehe. Nach weiteren Wochen meinte sie, ich solle doch einfach mal Briefe an einen unbekannten Geliebten schreiben und ihn in meine Seele einladen. Ich fand diese Idee befremdlich. Trotzdem reizte mich etwas an dem Gedanken. Eines Abends nahm ich den Stift in die Hand und begann drauf los zu schreiben.

Das war der Beginn einer abenteuerlichen Reise zu mir selbst! Statt biografische und traumatisch bedingte Zusammenhänge von Bindungsmustern zu analysieren, begann ich andere Wege zu beschreiten, indem ich meine vergangenen Liebesgeschichten liebevoll in Worte kleidete. Damit öffnete sich eine neue Tür, die ich zuvor schon durch therapeutische Arbeit geöffnet zu haben glaubte. Während des Schreibprozesses ergab es sich, dass meine Freundin mich mit ihren eigenen und den Liebesgedichten weiser Menschen ermunterte, tiefer in meine Gefühlswelt einzutauchen. Sie spürte intuitiv, was mich aufwühlte, was ich nicht in Worte fassen konnte oder wollte. Ich begann mutiger zu werden.

Mit jeder Zeile wickelte ich mich aus alten Verwicklungen heraus. Ich erlebte eine nie dagewesene Freude, mich auf mich selbst einzulassen. Und nicht nur das. Ich begann, liebevoll und freundlich auf meine „Fehler“ und mein vermeintliches „Scheitern“ zu schauen. Am Ende der Geschichte zeigte sich die wahre Geliebte. Sie stand mir gegenüber. Treu. Aufrichtig. Bereit zu lieben.

Der Begriff „Treue“ klärte sich durch mein intensives Schreiben neu.

Treu kann ich nur mir selbst gegenüber sein. Treu meiner eigenen Wahrheit, meinen eigenen Bedürfnissen gegenüber. Das erfordert Mut. Mut zur ehrlichen Auseinandersetzung. Mut zu Zugeständnissen und Eingeständnissen.

Seitenspringen bewerte ich keinesfalls moralisch, doch ich habe erfahren und bin überzeugt, dass Seitenspringen zwar lustvoll ist, jedoch von sich selbst wegführt. Es mag in den Angeln knirschen, doch dürstet die Seele nach Selbsttreue und Selbstliebe. Ein Seitensprung ist wie ein Versteckspiel. Er verdunkelt, was durch Heimlichkeit und Unaufrichtigkeit den Weg zur Selbsterkenntnis verstellt. Treue und Ehrlichkeit sind in meinen Augen keine moralischen Grundwerte, sondern grundlegende Seelenbedürfnisse.

Diese Einsicht führte mich zu meiner oben beschriebenen Erfahrung:

Treu. Aufrichtig. Bereit zu lieben. Dieses wunderbare Geschenk wartet auch mit 70 auf mich.

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