Béatrice Stössel: Beim Schreiben schiessen mir Ideen ein, wie Milch in die Mutterbrust.

Béatrice Stössel, 01.09.2023

Béatrice Stössel
Béatrice Stössel

Ja, ich gestehe, ich schreibe kein Tagebuch. Wobei ..., kürzlich suchte ich nach einem Schriftstück, und da fiel mir so ein Tagebuchausschnitt in die Hände, den ich vor einigen Jahren verfasst hatte, noch dazu in französischer Sprache. Auf den Tag genau neun Monate hatte diese «grosse Liebe» gedauert. Dann flog der Schmetterling weiter. Meinen Liebeskummer von damals brachte ich zu Papier. Ich verfluchte den Kerl, bedauerte mich, sehnte mich nach den schönen Stunden und heulte mir die Augen aus. Alles zu lesen im Liebeskummer-Tagebuch.

Inzwischen ist alles längst verheilt. Es gab und gibt sehr viele andere, bessere Themen die mich heute begeistern. Mich über «Herz-Schmerz» beklagen, mich bedauern und einer verflossenen Liebe nachweinen? Wozu? Was fasziniert mich heute am Schreiben? Welche Herausforderung reizt mich? Welche Gedanken, Gefühle, Geschichten will oder muss ich zu Papier bringen und weshalb?

Angefangen hat meine Lust am Schreiben schon in der Schule. Ich liebte die Aufsatzstunden, ganz im Gegensatz zur Mathematik oder - noch schlimmer: - zur Geometrie. Ich erinnere mich nur zu gut an eine Geometrieprüfung in der Sekundarschule. Was gefragt war, verstand ich nicht. Ich zeichnete mit dem Zirkel ein paar Kreise aufs Papier. Einfach so – einfach irgendwie. Wissen Sie was dabei rauskam? Der Kopf von Micky Mouse und ein Verweis vor die Tür.

Beim Schreiben hingegen verflog die Zeit wie im Flug. So geht es mir noch heute. Ein Stichwort, ein Erlebnis - schon reihen sich Sätze aneinander, welche sich peu à peu zu einer Geschichte formen. Eine grossartige Methode ist das automatische Schreiben. Hinsetzen und zehn Minuten lang notieren, was einem durch den Kopf schwirrt, ganz ohne Punkt und Komma. Und wenn es nicht schwirrt, schreibe ich, dass mir nichts in den Sinn kommt. Schon schiesst eine Idee ein, wie Milch in die Mutterbrust.

Es ist die Lust am Formulieren, dem Fabulieren und dem Fantasieren. Die Freude, eine Geschichte zu erfinden, welche meist nicht ganz der Wahrheit entspricht. Die von selbst entsteht, wenn man zu Papier und Bleistift greift. Dieses «Sinnerlebnis» fasziniert mich immer wieder.

Eine andere Aufgabe, der ich mich widmen will, ist meine Familiengeschichte zu erzählen. Das dürfte eine grosse Herausforderung werden. Dieses Projekt geistert schon länger durch meine Hirnwindungen. Oft erscheint es mir zu gross, zu schwer. Schier unlösbar in seiner Komplexität. Dann frage ich mich: Will ich das wirklich? Die abschliessende Antwort bleibe ich mir noch schuldig.

Bis jetzt ist wenig dazu geschrieben. In meinem Kopf nimmt alles je länger, je mehr Gestalt an. So soll es auch in Worte gefasst werden? Die Familie mit all ihren Facetten? Das kann heiter werden. Nun, ein Anfang ist gemacht. Ich muss nur dranbleiben. Muss diese Berg- und Talfahrt der Gefühle in Worte fassen. Muss ich? Ich weiss nicht recht. Meine Schreibfreude und die Neugier, ob es mir gelingen wird, sind der Schreibmotor. Der wird den inneren Zensor rasch in die Wüste schicken. Wahrscheinlich! Ziemlich sicher! Das wäre doch gelacht, wenn ich das nicht hinkriege!

Schreiben hilft auch, wenn die Welt nicht mehr so rosig ist, wie man glaubt. Wenn eine traurige Nachricht ins Leben platzt in Form einer schlechten Diagnose, die nichts Gutes verheisst. Wenn mit einem Schlag alles anders ist. Was dann?

Zufällig wurde bei einer Freundin ein kleiner Tumor im Hirn entdeckt. Der Grund, weshalb ein MRI gemacht wurde, war eigentlich ein anderer. Es sei ein noch kleiner gutartiger Tumor, wurde ihr versichert. Er wachse äusserst langsam. Sie werde nicht WEGEN, sondern MIT diesem Fremdkörper im Hirn sterben, beteuerte der Arzt.

«Wie gehst du damit um?», fragte ich. Sie legte den Zeigefinger vor den Mund und machte: «Bssst, du musst ganz leise sprechen, damit der Joggel weiterschläft!»

«Wie meinst du das?», wollte ich wissen. Sie erklärte mir, dass sie dem wirklich noch winzigen Gewächs einen Namen gab.

«Er heisst ’Joggel’! Das passt doch zu mir und meinem verrückten Leben oder etwa nicht?»

Ich musste ihr recht geben. Schon sprudelte sie weiter und erzählte mir, dass sie seit der Diagnose ihren Frust, ihre Angst, aber auch ihre Hoffnung, all ihre Gedanken und Gefühle zu Papier bringt.

Aufgestellt flüstert sie mir zu: «Und weisst du was? ’Dä Joggel’ beherrscht durch den Schreibprozess mein Leben nicht mehr. Diese Zufallsentdeckung ist doch ein Glück. Jetzt kann ich ihn überwachen lassen, im schlimmsten Fall operieren und das rechtzeitig. Hätte man ‘Dä Joggel’ nicht entdeckt, wäre er heimlich grösser geworden und dann ..? Wer weiss, was hätte passieren können, wenn es zu spät gewesen wäre, um ihm den Garaus zu machen?»

Ich erinnerte mich an eine mir bekannte Schreiblehrerin, die bei der Krebsliga Zürich ‚Kreatives Schreiben‘ als Entlastung für Betroffene und Angehörige anbietet.

«Weisst du, sie bringt die Menschen ins Schreiben, löst dadurch Blockaden. Der Austausch in der Gruppe hilft zusätzlich. Sie gehen gemeinsam ins Kunsthaus Zürich oder ins Kunstmuseum Winterthur. Denn ‚Kunst tut gut‘ und schreiben erst recht. Der Austausch in der Gruppe hilft zusätzlich“, erzähle ich meiner Freundin.

Sie grinst, so wie nur sie grinsen kann und meint ganz trocken:

«Sag ichs doch: Schreiben hilft!»

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