Béatrice Stössel: Lieber Grossvater Emil

Béatrice Stössel, 29.01.2024

Béatrice Stössel
Béatrice Stössel

Lieber Grossvater Emil

Da staunst du, nicht wahr? Ein Brief aus der Schweiz, datiert im Februar 2024. Fast einhundert Jahre, nachdem du in San Francisco angekommen bist.
Ich bin deine Enkelin Béatrice, die Tochter von Hermine, deiner Jüngsten. Ich möchte mich dir mitteilen, denn ich hatte nie die Gelegenheit dich kennenzulernen.
Wie ich erfuhr, bist du 1925, alleine, ohne Deine Frau Cesarine, ohne deine beiden, noch lebenden, Töchter Lydia und Hermine in die USA ausgewandert.
Du machtest dich auf, übers Meer, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wo eine Karriere vom Tellerwäscher zum Millionär möglich war. Du suchtest eine bessere Zukunft, vertrautest den Versprechungen, welche man sich von Amerika machte. Welche Gründe, welche Gefühle, Ängste, vielleicht auch Abenteuerlust begleiteten dich wohl auf dieser Reise?

Die Wunden des ersten Weltkriegs waren noch nicht verheilt. Europas Wirtschaft lag am Boden, wie ein schwer verwundetes Tier. Und mittendrin du, als Ernährer, Gatte und Vater. Wie und wo konntest du Geld verdienen? Es brennen mir so viele Fragen unter den Nägeln. Doch womit soll ich beginnen?

Wurdest du im ersten Weltkrieg Soldat?

Kamst du nur ab und zu von der Front heim, ins Walliser Dorf Mörel?

Zeugtest du deine Töchter Lydia und Hermine in den Urlaubstagen, während deine Erstgeborene Margrith bereits kränkelte und 1920 an «Schwindsucht» starb?

Sagtest du dir: Auf zu neuen Ufern? Dort in den Weiten der Prärie gibt es sicher gute Chancen für ausreichendes Einkommen?

Was erfuhr ich im Laufe der Jahre über dich? Du seist einfach abgehauen, erzählte meine Mama Hermine, hättest Frau und Töchter allein zurückgelassen. Enttäuschung hörte ich in ihrer Stimme, Verlassenheitsgefühle und Wut. Meine Patin Lydia hingegen, drei Jahre älter als meine Mutter, widersprach. Sie erinnerte sich, dass du deine Frau auf Knien inständig angefleht hättest mitzukommen. Dich in eine bessere Zukunft zu begleiten. Cesarine wagte den Schritt nicht.

Ich frage mich weshalb? Was passierte damals wirklich?

War es ihr einfach zu unsicher? Hatte sie Angst vor Neuem?

Hattet ihr Streit? War die Liebe verflogen?

Warst du vielleicht froh, dieser Ehe entfliehen zu können?

Kam es damals zum endgültigen Bruch zwischen Euch?

Es liess sich kein einziger Fetzen Papier finden, aus dem ich etwas über euch hätte erfahren können. Belegt ist nur, dass Cesarine, mit den beiden Töchtern, wieder zu ihren Eltern, ins Pellanda Haus nach Mörel zurückkehrte. Deine Mädchen wuchsen bei den Grosseltern auf und wurden von den unverheirateten Tanten grossgezogen, während ihre Mutter für deren Unterhalt arbeitete. Offensichtlich floss aus Amerika kein Geld zur Unterstützung ins Wallis? Die Mädchen wuchsen fast in einem ausschliesslichen «Weiberhaushalt» auf. Der einzige Mann im Haus war Lorenz Pellanda, dein Schwiegervater, mein Urgrossvater. Auch er ein «Auswanderer». Er verliess Italien zu Beginn des 20. Jahrhunderts und kam ins Wallis. Für ihn war die Schweiz «Das gelobte Land», welches versprach, dass er hier auf einen grünen Zweig kommen könne. Du aber, hattest dich für die Reise über den grossen Teich entschieden.

Wie war für dich die Reise ins Ungewisse? Was erwartete dich drüben?

Ob du es glaubst oder nicht, ich fand im Internet tatsächlich einen handgeschriebenen Eintrag aus dem Einwanderungsregister. Zu lesen war:

Arrival: 21 of November 1925 in San Francisco / Name: Luggen Emil / Sex: male / Color: white / Status: Lodger / Married: in Switzerland / Children: Lydia 13 years / Hermine 10 years, both resident in Switzerland / Profession: Cook.

Das ist alles, was ich erfuhr. Herzlich wenig, nicht wahr?

Also erzähle ich dir etwas über deine Enkelkinder und ihren Werdegang. Du hast vier Nachkommen, die dich „Großvater“ hätten nennen können. Michel und Claude, Lydias Söhne. Rosmarie und ich, Hermines Töchter. Claude ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten! Das ist klar ersichtlich auf dem einzigen Foto, das ich von dir besitze. Er ist der kreativste unter uns, ein Künstler, Zeichner und Filmemacher. Gewinner diverser internationaler Preise im Bereich: „Dessin animé“. Michel wurde Mathematiklehrer, zeugte eine Tochter und einen Sohn und geniesst heute mit seiner Frau den verdienten Ruhestand.

Meine Schwester Rosmarie, eine Frau mit grossem Schauspieltalent, welches sie nicht umzusetzen wusste, hat die Gene deiner Frau Cesarine und Tochter Hermine geerbt – auch sie leidet heute an der Alzheimerkrankheit. Ich heiratete, bekam eine Tochter und einen Enkel. Mein Ruhestand ist ausgefüllt mit Schreiben. Bereits drei Bücher brachte ich auf den Markt. Und vielleicht werden aus den imaginären Gesprächen, die ich mit meinen Vorfahren führen will nicht nur eine Familienaufzeichnung, sondern mein viertes Buch?

Dies meine grobe Einleitung zu deinen Nachkommen.

Doch zurück zu dir. Zu gerne wüsste ich, wie du dich durchgeschlagen hast als du in San Francisco an Land gingst.

Lerntest Du jemanden kennen, der dir weiterhalf?

Wie gestaltete sich dein Leben?

Wo und mit was konntest du Fuss fassen?

Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?

Davon ausgehend, dass du ausser Deutsch vielleicht noch Französisch sprachst, stelle ich mir die Ankunft auf dem fremden Kontinent schwierig vor.

Konntest du dich schnell verständigen?

Gelang es dir einfach Kontakte zu knüpfen?
Konntest du Erfolge feiern?

Warst du glücklich?

Grossvater, es bleibt mir einzig meine Fantasie. Zu welchem Menschen wirst du unter dieser Prämisse für mich?

Gestalter oder Verwalter?

Hattest du Biss oder fröntest dem «Laissez-faire»?

Warst du grosszügig oder kleinlich?

Ein Miesepeter oder eine Frohnatur?

Was prägte dich mehr, Abenteuer oder Heimweh?

Welche Eigenschaften hast du mir vererbt?

Grossvater, ich hoffe unsere Gespräche werden sich fortsetzen, wenn auch nur in meiner Vorstellung. Das wird abenteuerlich, denn so kannst du zum Helden avancieren oder als Versager enden. Und jetzt weiss ich auch, wie ich dich in Zukunft nennen will: GRANDPA. Ich bin gespannt, wie es weiter geht.

Es grüsst dich herzlichst: Deine Enkelin Béatrice

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